Sonntag, 26. August 2018

Sah ein Knab ein Röslein stehn

  Sah ein Knab’ ein Röslein stehn,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah’s mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

   Knabe sprach: ich breche dich,
Röslein auf der Heiden!
Röslein sprach: ich steche dich,
Daß du ewig denkst an mich,
Und ich will’s nicht leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

   Und der wilde Knabe brach
’s Röslein auf der Heiden;
Röslein wehrte sich und stach,
Half ihm doch kein Weh und Ach,
Mußt’ es eben leiden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Heiden.

(Johann Wolfgang von Goethe, Fassung von 1827, Entstehung vermutlich 1771)

Vertonung von Schubert: Schwarzkopf; Fischer-Dieskau
Chorfassung von Werner (Günztaler Vocalensemble)
Kelly Familie (1988)  Maite Itoiz & John Kelly  (2009) Kings Singers (zu beachten das illustrierende Bild, das Itoiz/Kelly in ihrer Inszenierung aufgreifen)


Ob Goethe das folgende Volkslied kannte, ist nicht sicher. Die Wendung "Röslein auf der Heiden" legt es nahe. Freilich wird es das Lied auch in verschiedenen Versionen gegeben haben. (vgl. dazu den Wikipediaartikel)
Der Vergleich mit einer Rose ist der gleiche. Der Unterschied in der Aussage ist aber stark.
Der sexuelle Übergriff wird - in den Kompositionen wird das noch deutlicher - als unvermeidbar hingenommen und sentimentalisiert als schicksalhaft von der Frauenrolle vorgegeben. Der Mann ist der Handelnde, die Rose (Metapher: die Blume, die gebrochen wird) kann nicht ausweichen oder entfliehen, sie ist aufgrund ihrer naturgegebenen Rolle dem Handeln ausgeliefert, auch wenn sie dem Widerstand entgegenzusetzen versucht.
Nicht ganz so passiv, aber auch dem handelnden Mann ausgeliefert schildern die Lieder "Es blies ein Jäger wohl in sein Horn" und "Es freit ein wilder Wassermann" die Situation von Jungfrau und Frau. 
Von der gegenwärtigen MeToo-Debatte ist diese Auffassung der Frauenrolle weit entfernt. 
Bisher ist die jahrhundertlange Sentimentalisierung dieser Frauenrolle in Volkslied und Kunst meiner Kenntnis nach in dieser Debatte kaum zur Sprache gekommen. 

Sie gleicht wohl einem Rosenstock
drum liegt sie mir am Herzen
Sie trägt auch einen roten Rock
kann züchtig freundlich scherzen.
Sie blühet wie ein Röselein
die Wänglein wie das Mündelein
Liebst du mich, so wie ich dich
Röslein auf der Heiden
Das Röslein, das mir werden muß
Röslein auf der Heiden
Das hat mir treten auf den Fuß
Und g´schah mir doch nicht leide
Sie liebet mich im Herzen wohl
In Ehren ich sie lieben soll
Liebst du mich, so wie ich dich
Röslein auf der Heiden
Beut her mir deinen roten Mund
Röslein auf der Heiden
Ein Kuss gib mir aus Herzensgrund
So steht mein Herz in Freuden
Behüt dich Gott zu jeder Zeit
All Stund und wie es sich begeit
Liebst du mich, so wie ich dich
Röslein auf der Heiden
Wer ist’s der uns dies Liedlein sang
Röslein auf der Heiden
Das hat getan ein junger Knecht
Als er von ihr wollt scheiden
Zu tausend hundert guter Nacht
Hat er das Liedlein wohl gemacht
Liebst du mich, so wie ich dich
Röslein auf der Heiden

Text: aus von Paul von des Aelst : Liederbuch um 1602
Musik: anonym , aus “ Geistliche Lieder “ 1545

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